
Regelmäßig alle drei Jahre zeigt mir ein Blick auf meine Brillengläser, dass ich entweder beim Putzen etwas falsch mache – oder dass die kratzfreie Oberfläche der sündhaft teuren Brillengläser doch nicht so toll ist, wie in den Werbeprospekten versprochen.
Also bin ich zum Optiker gegangen – und habe die Gelegenheit genutzt, meine Brillenwerte neu vermessen zu lassen. Und siehe da: Erstmals sind sie sogar etwas besser geworden.
Die freundliche Optikerin erklärte mir, dass die Risse auf der Oberfläche nicht vom Putzen mit Taschentüchern, Brillenreinigungstüchern oder unter fließendem Wasser stammen können. Vielmehr sei die Brille vermutlich beim Kochen oder Backen zu heiß geworden. Durch die Temperaturunterschiede könnten Mikrorisse entstehen.
Klar, dass mich diese Erklärung etwas ratlos zurücklässt – schließlich hänge ich mein bebrilltes Gesicht eher selten in den Backofen. Auch die Fritteuse kann es nicht gewesen sein, denn ich besitze gar keine. Beim Öffnen des Backofens möchte ich nicht ganz ausschließen, dass meine Brille etwas Temperatur abbekommt. Auch beim Öffnen der Spülmaschine entsteht ein kurzer Hitzeschwall. Doch die für mich nicht ganz nachvollziehbare Erklärung weckt meinen Forscherinstinkt. Etwas in mir drängt danach, dieser doch etwas abstrus wirkenden Aussage weiter auf den Zahn zu fühlen.
Eine Hausaufgabe ist vorher noch zu erledigen: Die Geometrie meiner Brillengläser kann ich am Rand noch einigermaßen erfassen, aber den Radius innen und außen hätte ich doch gern etwas genauer. Sonst besteht die Gefahr, dass jemand meine Berechnung anzweifelt.
Eine kurze Beschäftigung mit den Grundlagen der Optik zeigt: Meine -5,5 Dioptrien entsprechen bei einem hochbrechenden Kunststoff mit einem Brechungsindex von 1,67 in etwa den Radien R₁ = 0,0833 m und R₂ = –0,0493 m. Und ja, Sie haben richtig gelesen: Der Radius R₂ ist negativ. Ich habe als Ingenieur zwar noch nie einen negativen Radius gesehen und war entsprechend verwundert – aber formeltechnisch scheint das in Ordnung zu gehen. Genauso wichtig: Die Radien müssen in Metern angegeben werden – sonst passen sie nicht zu den Dioptrien. Die Außenabmessungen ohne verrundete Ecken betragen 65 mm × 35 mm, die Dicke in der Mitte steht im Brillenpass und beträgt 1,2 mm. Tja – und die Schichtdicke beträgt zumindest im Rechenmodell 4 μm. Das scheint laut kurzer Recherche durchaus realistisch.
So, die Geometrie haben wir also. Was fehlt, sind Materialkennwerte des Glases (bzw. Kunststoffs) und der Beschichtung. Wir brauchen für beide Materialien: E-Modul, Querkontraktionszahl, spezifische Wärmekapazität, Dichte und Wärmeausdehnungskoeffizient. Zur Bewertung dient die Zugfestigkeit der Beschichtung. Wenn Sie es genauer interessiert, schicke ich Ihnen gerne die Werte, die ich verwendet habe. Der durchschnittlich geschätzte Leser meiner Blogs mag aber weder Tabellen noch Formeln – daher habe ich darauf verzichtet.
Mit geschärftem Bewusstsein und innerer Stoppuhr bewaffnet habe ich beobachtet, wie lange ich mich am geöffneten Geschirrspüler, Herd oder an der Pfanne mit dem Gesicht im kritischen Bereich aufhalte – bzw. wie lange ich die Brille unter fließendem, warmem Wasser putze.
Ich habe mir drei Lastfälle überlegt, die mich interessieren und die das zu kurze Leben meiner Brille weitgehend beschreiben:
LF1: Waschen unter warmem Wasser
Wassertemperatur: 40 °C
Wärmeübergangskoeffizient: 1000 W/(m²K)
Dauer: 10 Sekunden gleichmäßige Beaufschlagung von allen Seiten
LF2: Öffnen des Geschirrspülers – Wasserdampf steigt auf
Dampftemperatur: 90 °C
Wärmeübergangskoeffizient: 100 W/(m²K)
Dauer: ca. 1 Sekunde – nur an der Außenfläche der Brille
LF3: Brille im heißen Auto liegen lassen
Homogen auf 70 °C aufgeheizt
Der zweite Lastfall deckt grob auch die Kochszenarien ab. Fettspritzer mit heißem Öl im Gesicht vermeide ich in der Regel.
Die Wärmeübergangswerte sind aufgrund meiner 36-jährigen Erfahrung im Simulationsbereich bei Merkle CAE Solutions nahezu perfekt abgeschätzt, während die Zeitangaben – wie erwähnt – aus Realversuchen am Waschbecken und in der Küche stammen.
Geometrie, Modell und Randbedingungen











Bild 0.1 bis 0.3 zeigt das FEM-Modell mit Rechennetz und Randbedingungen. Clever wurden Symmetriebedingungen ausgenutzt, um Rechenzeit zu sparen – auch wenn das heute nur Sekunden bis zum Ergebnis dauert. Da kann ich nicht aus meiner Haut: So wie Trümmerfrauen in der Nachkriegszeit alles verwertet haben, geize ich mit Rechenzeiten – geprägt von meiner Zeit an der Uni mit Lochkarten.
Die Ergebnisse zeigen eindeutig: Gleichmäßige, hohe Temperaturen schaden den Brillengläsern am meisten. Die Beschichtung hat eine geringere Wärmeausdehnung als der Kunststoff. Wird sie nur von vorn kurzzeitig erwärmt, tut ihr das nicht so weh. Beim Waschen unter warmem Wasser dagegen ist der Wärmeübergang wesentlich besser, die Gläser werden insgesamt wärmer – und dadurch steigen die Zugspannungen in der Schicht.
Liegt die Brille im Auto, treten bereits ab einer Temperaturerhöhung von 30 °C Spannungen oberhalb der Zugfestigkeit der Schicht auf. Das Resultat: Mikrorisse, die relativ gleichmäßig auf der Oberfläche verteilt sind.
Vermutlich werde ich in drei Jahren wieder neue Brillengläser brauchen. Aber ich werde die Wassertemperatur beim Putzen etwas kühler einstellen – bin aber ohnehin eher der Brillenspray-Typ, da damit Fett und Schlieren besser weggehen.
Die Brille im heißen Auto liegen zu lassen oder mit in die Sauna zu nehmen, erübrigt sich wohl. Auch an Backofen, Grill oder Spülmaschine werde ich künftig vorsichtiger herangehen, wenn ich die Klappe öffne.
Das dunkle Gefühl, dass die Beschichtung mit der Zeit einfach Kratzer bekommt – egal, was die freundliche Optikerin sagt – lässt mich leider nicht ganz los. Wir werden sehen…
Ihr Stefan Merkle

PS: Ich freue mich wie immer über Feedback. Gibt es Alltagsthemen, über die Sie mit Hilfe der Simulation bei Merkle CAE Solutions gerne mehr wissen möchten? Schreiben Sie mir gerne!
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Lieber Herr Merkle,
das ist mal ein Superansatz.. Ich bin inzwischen auf mineralische Gläser gewechselt. Die haben auch nach vielen Jahren eine hohe Brillanz. und minimale Kratzer.
Das gilt auch für meine antiquarischen uralten Ersatzbrillen.
Beim Brillenputzen unserer Brillen (Kunststoff und Mineralglas) bevorzuge ich den fließenden Wasserhahn, bevor ich stark verdünntes Geschirrspülmittel verwende.
Inzwischen habe ich den Putzdienst der Brille der Brillen für meine Frau mit übernommen.
Interessanterweise sind meine Gläser immer wenig verkratzt obwohl ich immer gleich putze.... also erst mal viel spülen um nicht Restschmutz als Schmirgelmaterial zu haben. Das mag wohl eine der wesentlichen Ursachen für Kratzer zu sein. Die Gläser meiner Frau sind grundsätzlich immer verschmiert und schmutzig. Sie nimmt wohl öfter die Brille in die Hand.
Thermische Belastungen können wir ausschließen.
LG
Michael Heine
Hallo Herr Merkle,
Vielen Dank für die Interessante und kurzweilige Information.
Meine Frau und ich hatten an 4 sehr teuren Brillengläsern auch Beschädigungen an der Beschichtung. Der Optiker meinte ursächlich wäre das Liegenlassen der Brillen im Auto. Das haben wir dem Optiker, bzw, Glas-Hersteller natürlich "nicht abgenommen". Wir hatten dann jeweils 1 Glas pro Brille "als Kulanz" bekommen. Durch ihren Artikel sind wir jetzt aufgeklärt und werden die Brillen nicht mehr im Auto liegen lassen.
Vielen Dank nochmals für die wissenswerte Information.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Viele Grüße aus Mannheim,
Markus Schulz